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Der
Anatolisch-Türkische Humanismus, Melih İnan
Den Gedanken, dass der Mensch den
höchsten Wert darstelle und man deshalb seine Würde wahren, alle
seine Kräfte zur Entfaltung bringen und zu diesem Zweck in der
Gesellschaft günstige Bedingungen schaffen müsse, kann man wohl als
„Humanismus“ bezeichnen. Ein erstes Aufleuchten dieser
Gedankenrichtung begegnet uns in der Antike, doch unter dem Einfluss
der mittelalterlichen scholastischen Theologie wurde sie
zurückgedrängt und für eine Zeitlang verfinstert.
Mit Beginn der italienischen
Renaissance gewann auch der Humanismus neues Leben. Nachdem man
anfangs alte griechische und lateinische Texte gelesen und neu
schätzen gelernt hatte, wollten die Humanisten eine neue Kultur
außerhalb der von der Kirche propagierten Wertmaßstäbe schaffen, die
sich dann auch parallel zur Entwicklung von Wissenschaft und
Philosophie ausbreitete. Petrarca, Boccaccio, Macchiavelli, Erasmus
und Montaigne sind die Hauptvertreter der Epoche. Nach diesem sehr
kurzen Blick auf die Geschichte des Humanismus fragen wir uns, wie
dieser wohl in Anatolien begann und sich entwickelte und wer seine
Vertreter waren.
Die Turkmenischen Volksstämme, die
nach der Feldschlacht bei Malazgirt 1071 nach Anatolien einzuwandern
begannen, waren weder so wild und grausam wie die Mongolen, deren
Nachbarn sie eine Weile gewesen waren, noch Gefangene der Scholastik
wie die Europäer jener Zeit. Nachdem sie im 8./9. Jahrhundert den
Islam angenommen hatten, entwickelten die Türken in ganz kurzer Zeit
in Städten wie Belh, Horasan, Buhara und Yesi eine ganz neue Form
des Denkens und Lebens, die die Scholastik der Epoche weit hinter
sich ließ. Dieses Gedankensystem brachte später in Anatolien seine
schönsten Früchte mit dem Kern des Humanismus. Als Führer auf diesem
Weg kann man Ahmet Yesevi in der Stadt Yesi und den Vater von
Mevlânâ, Sultanul Ulema Bahaeddin, in der Stadt Belh ansehen.
In dieser Schule Erzogene ließen
sich in Anatolien nieder und entzündeten das Feuer eines Humanismus,
das die ganze Welt erleuchten sollte. 150 Jahre vor Beginn der
Renaissance in Europa verachtete ein Yunus Emre nicht nur die
scholastische Theologie, sondern ist noch für uns Heutige überragend,
zusammen mit Mevlânâ Celâleddin-i Rumi und Hacı Bektaş-i Veli. Diese
drei wichtigen Persönlichkeiten waren im echten Sinne Muslime und
von der Rasse her Türken. Der islamische Glaube war bei allen dreien
die Grundlage der Gefühls- und Gedankenwelt. Sie priesen die
Gottesliebe als Heilmittel für das menschliche Herz.
Mevlânâ wendete sich mehr an die
aristokratische Schicht, an die Elite; Hacı Bektaş dagegen an die
breiten Volksmassen; Yunus Emre jedoch spricht alle an mit seiner
starken und beherzten Sprache.
Mevlânâ hat seine Gedichte sämtlich
persisch geschrieben. Verse, Musik und den Semâ-Tanz erhebt er zur
Ebene des Gottesdienstes. Sie spiegelten eine universale Philosophie
wieder mit Grundsätzen, die alle Menschen zur Liebe, Brüderlichkeit
und Toleranz aufrufen. Das ist eine Fahne, die gegen alle
Verbohrtheit entfaltet wird. Voll Toleranz und grenzenlosem
Vertrauen betrachtet er Zuneigung, Schönheit und Menschenliebe mit
göttlichem Inhalt.
Was Mevlânâ auf Persisch ausdrückt, hat Yunus Emre in schlichtem
Türkisch ebenso und auf derselben Sinnebene gesagt. Als muslimisch
türkischer Derwisch war Yunus Emre im wahrsten Sinne ein Mann der
Liebe. Er glaubte, man sei in die Welt nicht zu Kampf und Streit,
sondern zur Liebe gekommen. Der Sinn von alledem sei die Erhebung
des Menschen, und jeder sei liebenswert, unabhängig von
Glaubensbekenntnis, Sprache, Geschlecht und Rasse. In einem Gedicht
spricht Yunus Emre davon, dass das Gebet eines verletzenden Menschen
ungültig sei und die religiösen Verdienste dessen, der einen anderen
gekränkt hat, nicht zählen. In einem anderen Gedicht heißt es,
wichtiger als die Pflicht zur Wallfahrt nach Mekka sei es, andere zu
erfreuen, ihnen Gutes zu tun.
Da der Mensch das schönste Werk des
Schöpfers und auf Erden sein Statthalter ist, waren sich alle jene
großen Persönlichkeiten einig in ihrem Blick auf die gesamte
Menschheit.
Alle Geschöpfe, seien sie nun gut
oder schlecht, schön oder hässlich, müsse man lieben und tolerieren
als Werke des Schöpfers, hatte Mevlânâ gesagt. Und in einem Gedicht,
das ein Gegenstück zu denen von Yunus Emre ist, heißt es:
Wieder komm wieder,
wärst du auch ungläubig,
wärst du ein Feueranbeter
oder ein Götzendiener
Hättest du auch hundertmal Reue geschworen
Und den Schwur hundertmal wieder gebrochen:
Der Hoffnungslosigkeit Tür ist diese Tür nicht.
Wie immer du bist, komm so!
So erteilt Mevlânâ jedem eine
Lektion in Menschlichkeit. Und in einem Aphorismus sagt er: „Ich bin
wie ein Zirkel. Mit dem einen Fuß stehe ich fest auf dem Boden des
Glaubens, mit dem anderen wandere ich durch die 72 Nationen“.
Der Ausdruck „72 Nationen“ wird als
Umschreibung für die Menschen der ganzen Welt gebraucht. Wir finden
ihn immer wieder bei Yunus Emre und Mevlânâ, aber auch in den Lehren
des Hacı Bektaş-i Veli.
„Wer die 72 Nationen nicht kennt,
der ist nicht von uns“, damit meint Hacı Bektaş, dass derjenige, der
nicht alle Menschen unterschiedslos liebt, für ihn nicht als
Weggefährte in Frage kommt – was eine sehr fortschrittliche Ansicht
ist.
Yunus Emre ist gegen alle Gedanken,
die die Menschen einander zu Feinden machen: Wir sind gegen den
Hass, wir rächen uns an niemandem, für uns ist die ganze Welt eine
Einheit, so formuliert er.
Der anatolische Humanismus erhebt
den Menschen derartig, dass er ihn als Teil des Schöpfers sieht und
zeigt. Aus diesem Gefühl heraus wird auch der Tod, statt eine
schreckliche Katastrophe zu sein, zur eigentlichen Rückkehr. So
erklärte beispielsweise Mevlânâ seinen eigenen Todestag zum „Seb-i
Arus“, d.h., zum Hochzeitstag, an dem er dem Geliebten begegnen
wollte. Und unter diesem Namen wird der Tag auch heute gefeiert. Von
allen Enden der Welt kommen die Menschen jeder Glaubensrichtung zu
diesem Fest in das Kloster des Mevlânâ, wo in einer Atmosphäre der
Liebe und Toleranz nicht mehr Rang und Amt zählen und alle
Unterschiede verschwunden sind.
Um den anatolischen Humanismus noch
besser zu verstehen, wollen wir die Worte von Hacı Bektaş-i Veli
betrachten, die als Grundprinzipien des Bektaschitums gelten:
• Wirst du auch gekränkt, so kränke
deinerseits nicht
• Was dir selber schwerfällt, das sollst du von keinem anderen
verlangen
• Weder eine Nation noch einen Menschen sollt ihr tadeln
• Vergesst nicht, daß auch eure Feinde Menschen sind
• Wer den Weg nicht mit Vernunft geht, steht am Ende im Dunkeln.
• Beherrsche deine Hand, deine Zunge und deine Lende.
Wie man sieht, sind das keine
Prinzipien der Vergangenheit, sondern sie reißen auch heute noch
Horizonte auf.
Der Anatolische Humanismus hat im
12. Jahrhundert begonnen, doch endet er dort nicht. Durch die
Derwischbewegung und das Bektaschitum ist dieses Gefühl bis in
unsere Tage getragen worden. Die heutige Menschheit, die unter
Feindschaft, Hunger und Umweltverschmutzung zermalmt wird, leidet
gleichzeitig unter einem großen Mangel an Liebe. Dasselbe hatten vor
750 Jahren auch schon die Begründer des Anatolischen Humanismus
erkannt und dafür Abhilfe geschaffen. Uns Heutigen sind Mevlânâ,
Hacı Bektaş und Yunus Emre vielleicht noch notwendiger. Sie haben
sich in den Glauben der Menschheit nicht eingemischt, über keine
Streitfragen diskutiert, sondern die Gottesliebe als Heilmittel für
die Herzen angeboten.
Diese humanistische Philosophie
vereinigt sich beim Semâ (dem Gottesdienst der Derwische) mit dem
Körper. Der Meister Celâleddin B. Çelebi erklärt das so: „Die
Semâ-Feier verkörpert die geistige Himmelsreise des Menschen. Sie
wendet den Diener der wahren Wirklichkeit zu, erhöht ihn durch Liebe,
sprengt das enge Ich, lässt ihn sich in Gott verlieren und die Fülle
erreichen, reif werden – und wieder in den Dienerstand zurückkehren.
Das ist eine Rückkehr, um allem Geschaffenen, allen Geschöpfen in
einer neuen Weise, voll Liebe zu dienen. Der Semâ-Tänzer trägt auf
seinem Kopf den „Sikke“ (Grabstein) genannten hohen Hut und ist
bekleidet mit seinem „Leichentuch“; wenn er seine Jacke auszieht,
bedeutet das, er wird für die wahre Wirklichkeit geboren und von da
aus nimmt er seinen Weg und schreitet voran. Zu Beginn des Semâ hält
er die Arme über der Brust verschränkt, was ein Kreuz verkörpert.
Der Tänzer, der die Einheit Allahs bekennt, öffnet beim Semâ-Tanz
die Arme, wobei die rechte Hand wie beim Gebet zum Himmel geöffnet
ist, bereit, die göttliche Gnade zu empfangen, während die linke zur
Erde gedreht ist. Die von Gott empfangenen Wohltaten, das mit dem
Auge Gottes Geschaute, muss an das Volk weitergegeben werden. Von
rechts nach links über das Herz hinweg geht die Drehbewegung und
umfängt alle Menschen, alles Geschaffene mit Liebe.“
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