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Christentum
in Anatolien, Prof. Dr. Orhan Seyfi Yücetürk
Zum Reichtum des vieltausendjährigen anatolischen Kulturschatzes hat
auch das Christentum mit seinen Gaben beigetragen. Nicht nur, dass
sich das Christentum in seiner Frühzeit in Anatolien ausbreitete,
hier gewann es auch im wesentlichen seine organisatorische Gestalt.
Selbst als die muslimischen Türken nach Anatolien eingewandert waren,
konnten die Christen mit ihren Kirchen, Klöstern und Gemeinden
weiterleben. Denn im heiligen Buch des Islam, dem Koran, wird gesagt,
dass alle Offenbarungsreligionen eigentlich aus der gleichen Quelle
stammen. Die Anhänger dieser Religionen werden „Leute des Buches“ (Ehl-i
Kitap) genannt, wodurch ihnen gegenüber anderen Gläubigen eine
besondere Wertschätzung zuteil wird.
Der Koran betont an vielen Stellen,
daß die Propheten vor Muhammed, also z.B. Noah, Abraham, Isaak,
Ismael, Moses, Jesus, an die ja auch die Christen glauben, im Grunde
dieselbe Offenbarung erhielten. Der Koran, bzw. der Islam ruft
deshalb Juden und Christen zu einem Dialog über die
Glaubensgrundsätze und fordert sie auf, zur ursprünglichen Reinheit
zurückzukehren. Das schönste Beispiel dafür ist die Einladung, die
dem Propheten Muhammed offenbart wurde mit den Worten: „Sag: Ihr
Leute der Schrift! Kommt her zu einem Wort des Ausgleichs zwischen
uns und euch. Dass wir alle Gott allein dienen und ihm nichts
beigesellen; und dass wir uns einander nicht an Gottes Statt zu
Herren nehmen.“ Der Koran bestätigt das Prophetentum Jesu durch die
Aussage: „Und Er wird ihn die Schrift, die Weisheit, die Thora und
das Evangelium lehren.“ (3,48) Außerdem werden, wie in den
Evangelien, auch im Koran (z.B. 3,49) viele Wunder angeführt, die
den Glauben an das Prophetentum Jesu unterstützen sollen.
Als das Christentum in Palästina
geboren wurde, wetteiferten im vorderen Orient östlicher Mystizismus,
jüdische Messiaserwartung, griechische Philosophie und römische
Universalität miteinander. In diesem Umfeld entwickelte sich das
Christentum, in dem Jesus die frohe Botschaft vom nahen Reich Gottes
und vom Tag der Abrechnung verkündete. Aufgrund dieser Hoffnung
sammelten sich um ihn viele aufrichtige und reine Menschen. Doch das
Christentum konnte in Palästina, wo es entstanden war, nicht Wurzel
schlagen. Nachdem Jesus gekreuzigt, Stephanus gesteinigt und Jakobus
enthauptet worden war, erschien den Gläubigen das Bleiben als recht
gefährlich und sie beschlossen, in andere Länder zu gehen, um den
neuen Glauben zu verbreiten. Aber nicht nach Rom oder Athen, sondern
nach Anatolien machten sich die Jünger in kleineren und größeren
Gruppen auf. Sie wählten Antakya (das alte Antiochien), Tarsus und
Ephesos. Dorthin wanderte der Lieblingsjünger Johannes aus, dem
Jesus am Kreuz seine Mutter Maria anvertraut hatte.
Besonders Antakya spielt in der
Geschichte des Christentums eine wichtige Rolle, denn hier war die
erste christliche Gemeinde gegründet worden, die mit dem Judentum
gebrochen hatte; es war ein großes Missionszentrum entstanden, und
schließlich vollzog hier Paulus seine endgültige Bekehrung und
Entwicklung.
In Antiochien/Antakya, das wir als
Eingangspforte des Christentums nach Anatolien bezeichnen können,
wohnten damals zusammen mit den Juden viele Griechen. Lukas schreibt
in der Apostelgeschichte, dass einzelne, aus Jerusalem versprengte
Jünger nach Antiochien gingen und das Evangelium den dort lebenden
Hellenen verkündeten. Der Eifer und das Interesse, das diese der
Einladung entgegenbrachten, verblüffte die Jünger sehr, denn sie
hatten anfangs nicht an eine Verkündigung bei den Nichtjuden gedacht.
Um die neuen Gläubigen von den Juden zu unterscheiden, bekamen sie
in Antiochia erstmals den Namen „Christen“ (was eine Anspielung auf
den „Messias“, den Gesalbten, enthält).
Zu der Zeit schloss sich Paulus aus
Tarsus den Jüngern an. Zuerst hatte er an der Verfolgung der
Jesusjünger teilgenommen. Etwa im Jahre 33 überzeugte ihn eine
Vision davon, daß Jesus der Messias sei, und nun wurde er einer der
entschiedensten Verteidiger des neuen Glaubens. Er verkündigte mit
Nachdruck die Wahrheit, dass alle Menschen gerettet würden durch den
Glauben an Jesus, den Gesalbten Gottes, ohne dass die Beschneidung
oder die (jüdischen) Religionsvorschriften notwendig seien. Die
erste Missionsreise führte ihn (zwischen 45 – 48) nach Zypern und
Anatolien. Dabei begleiteten ihn Barnabas und Markus, die
Evangelisten. Paulus predigte in Anatolien, im heutigen Antalya,
Konya und Nigde und in den Städten Perge, Ikonium, Lystra und Derbe.
Dort entstanden neue christliche Gemeinden.
Zwischen 50 und 52 unternahm Paulus,
wieder ausgehend von Anatolien, eine zweite Missionsreise zu den
Heiden. Mit ihm waren Silas und Thimoteus und anfangs auch noch
Lukas und Barnabas. Zuerst besuchte der Apostel die Gemeinden um
Nigde und Konya herum. Dann, nachdem er Phrygien und Galatien hinter
sich gelassen hatte, ging er nach Thrakien, Makedonien und
Griechenland hinüber. Über Ephesos und Jerusalem kehrte er nach
Antiochia zurück.
Paulus machte noch eine dritte
Missionsreise (53 – 58). Nachdem er wieder die Gemeinden in Galatien
und Phrygien besucht hatte, blieb er drei Jahre lang in Ephesos.
Dort gab es schon eine christliche Gemeinde, die wahrscheinlich von
Johannes begründet worden war. Johannes hielt sich, wie man weiß, im
Jahre 48 in Jerusalem auf. Wo er die Zeit zwischen den Jahren 37 und
48 verbracht hatte, ist unbekannt. Man nimmt an, dass er mit Maria
nach Ephesos ausgewandert sei, von dort im Jahre 48 nach Jerusalem
gereist und im Jahre 67 wieder nach Ephesos zurückgekehrt sei.
Paulus musste Ephesos wegen des Aufstandes der Silberschmiede unter
Demetrius verlassen, die durch die Ausbreitung des Christentums das
Geschäft mit silbernen Artemistempelchen gefährdet sahen. Der
Apostel starb im Jahre 67 in Rom durch Enthauptung.
Paulus hat seine religiösen
Schriften und Briefe im wesentlichen auf anatolischem Boden verfasst,
wie z.B. den ersten Korintherbrief. Auch die Empfänger waren oftmals
Gemeinden in Anatolien, wie z.B. die Epheser, denen er aus dem
Gefängnis in Rom schrieb.
Auch Petrus schrieb seinen ersten
Pastoralbrief an die verfolgten Christen in Anatolien. Johannes, der
für die Verbreitung des Christentums eine wichtige Rolle gespielt
hat, ist eines natürlichen Todes gestorben. Sein Grab befindet sich
in Selçuk bei Ephesos. Über der Grabstätte war zuerst eine
bescheidene Kirche errichtet worden, die dann unter Kaiser Justinian
durch eine prächtige Basilika ersetzt wurde.
Johannes wendet sich in seiner „Geheimen
Offenbarung“ an die sieben Gemeinden Anatoliens, die er symbolisch
als „Sieben Engel, sieben Sterne, sieben Leuchter“ bezeichnet. Diese
auch „Sieben Kirchen“ genannten Gemeinden auf westanatolischem Boden
befanden sich in folgenden Städten:
1. Alasehir (Philadelphia), eine
Kreisstadt in der Provinz Manisa.
2. Izmir, mit dem alten Namen Smyrna.
3. Bergama (Pergamon), welches einst die Hauptstadt des
gleichnamigen Königreichs war.
4. Akhisar (Thyateria), ebenfalls ein Städtchen bei Manisa.
5. Laodikeia, war eine im 3. Jh. v. Chr. gegründete Stadt, sechs
Kilometer nördlich vom jetzigen Denizli nahe dem Dorf Eskihisar.
6. Sardes nahe bei Salihli, die alte Hauptstadt des Lydischen
Königreiches.
7. Ephesos (Efes bei Selçuk), in römischer Zeit Hauptstadt der
Provinz Asia.
Ein wichtiges weiteres Ereignis für
Ephesos war das 3. Ökumenische Konzil im Jahre 431. Die Konzilsväter
versammelten sich in der Marienbasilika in der antiken Stadt Ephesos.
Ein Beratungspunkt war die Anerkennung Marias als Muttergottes. Die
Gegenmeinung des Patriarchen Nestorius von Konstantinopel, Maria sei
die Mutter Jesu, nicht Gottes, wurde zurückgewiesen. Schließlich
erklärte das Konzil Maria offiziell zur „Gottesgebärin“ (Theotakos.).
Bis ins 10. Jahrhundert wurden
sämtliche Konzilien in Anatolien abgehalten, und zwar in NICEA/Iznik
das erste (325) und das siebte (787), in KONSTANTINOPEL/İstanbul das
zweite (381), fünfte (553), sechste (680 – 81) und achte (869 – 70),
in EPHESOS das dritte (431), in CHALZEDON/Kadıköy das vierte (451).
Solche Konzilien gibt es bis in die
Gegenwart. Doch die Grundprinzipien der Kirche und des Christentums
wurden in den oben genannten festgelegt.
Einige Zeit, ehe die Jünger nach
Antakya (Antiochia), dem Einfallstor des Christentums nach Anatolien
kamen, hatten dort die Arsakiden die Herrschaft übernommen (58 – 37
v.Chr.). Sie hatten am 28. Mai des Jahres 53 den Tribun Crassus in
den Harran-Ebene geschlagen und nicht nur Antakya sondern auch
Nordsyrien erobert. Die 20-jährige Arsakidenherrschaft dürfte im
Volk von Antakya ethnische Spuren hinterlassen haben. Die auch
Parther genannten Arsakiden sind nur die mit einem anderen Namen
versehenen Saka oder Skythen vom Horasan-Zweig, den selbst
unabhängige westliche Wissenschaftler als „türkischstämmig“
identifiziert haben. Die von den Griechen Skythen genannten Saka
waren um 680 v.Chr. in großen Gruppen über den Kaukasus nach
Aserbeidschan und Ostanatolien gekommen und hatten sich dort
angesiedelt. Dem Prinzen Anak aus dem Hause „Suren-Bahlav“ der
Arsakiden von Horasan wurde im Jahre 252, als sie zwischen dem Berg
Ararat und Maku rasteten, ein Sohn geboren, der in Kayseri
christlich erzogen wurde und als Mönch den Namen „Gregorios/Grigor“
annahm.
Der spätere Heilige Gregorius, der
auch die Patriarchenwürde erlangte, verbreitete das Christentum in
Anatolien mit Erlaubnis des Arsakidenherrschers Tiridat III.,
nachdem er diesen auf wunderbare Weise aus der Kraft des Evangeliums
von einer Krankheit geheilt hatte. Das Christentum breitete sich
auch unter den Türkenstämmen der Avaren, Bulgartürken, Pesenek, Zu,
Kuman und Kipçak aus, die vier bis fünf Jahrhunderte eher als die
muslimischen Türken vom Balkan und über den Kaukasus nach Anatolien
gekommen und dort sesshaft geworden waren. Die späteren Abkömmlinge
dieser Stämme vergaßen, sofern sie nicht Muslim wurden, mit der Zeit
ihre Herkunft und schlossen sich den Griechen und Armeniern an. Doch
die Alltags- und die Gottesdienstsprache, die Personen-, Orts- und
Gruppennamen blieben türkisch und wurden auch mit griechischen
Buchstaben in türkischer Sprache überliefert.
Mag man in der christlichen
Literatur auch darüber streiten, wo die Mutter Maria gelebt haben
und begraben sein soll, in Anatolien ist unter den muslimischen
Türken „Meryem“ und unter den christlichen Türken „Maria“ ein
häufiger Mädchenname.
Es wurde behauptet, Maria hätte in
Jerusalem auf dem Berg Zion gewohnt, oder nach anderer Auffassung in
Loretto in Italien. Was das Grab betrifft, so werden drei Orte bei
Jerusalem erwähnt, nämlich am Bach Kedron zwischen Ölberg und
Grabeshügel, in Gethsemane und auf dem Berg Zion, die in Frage
kommen. Andererseits vergaß man Maria in der Gegend von Ephesos
nicht, selbst als die antike Stadt verlassen wurde und die
Bevölkerung sich nach Ayasoluk um die Johanneskirche herum und noch
später in das Städtchen Sirince zurückzog. Kinder und Kindeskinder
gaben die Überlieferung weiter, dass sie hier gelebt hatte und
gestorben war. Bis heute hin feiern die Christen aus der Gegend wie
schon immer den 15. August, das Fest der Aufnahme Mariens in den
Himmel, mit Gottesdiensten in den Bergen bei Efes. Um diesen Glauben
zu stärken, hatte Papst Benedict XIV. (1740 – 1758) offiziell
erklärt, dass Maria in Ephesos gestorben sei.
Obwohl man wusste, dass Jesus seine
Mutter Johannes anvertraut hatte, fand man lange Zeit keinen
Anhaltspunkt für ihr Haus oder Grab. Dies änderte sich zu Beginn des
19. Jahrhunderts, als die stigmatisierte Nonne Katharina Emmerich
(1774 – 1824) in ihren Visionen das Haus und die Umgebung bis in die
kleinsten Details hinein sah. Aufgrund ihrer Angaben wurde in der
Nähe von Ephesos die Ruine eines Hauses aus dem 6. Jahrhundert
entdeckt, dessen Fundamente ins erste nachchristliche Jahrhundert
zurückgehen. Dass dies das Haus der Mutter Maria war, erkannte auch
der Vatikan, der die Wallfahrt dorthin erlaubte an. Papst Paul VI.
besuchte im Jahre 1967 die Johanneskirche und das restaurierte Haus
der Maria.
Christen wundern sich darüber, dass an diesem Wallfahrtsort auch
Muslime beten. Dies ist leicht erklärt:
In der islamischen Welt spricht man
von Maria mit Gottesfurcht, Liebe und Verehrung. Die Gebetsnische in
der Moschee (mihrab) erinnert an ihre Zelle (die im Koran ebenfalls
als „mihrab“ bezeichnet wird). Die neunzehnte Sure des Koran trägt
den Namen „Meryem“. Viele Koranverse sprechen von ihr und von ihrem
Sohn Jesus, die beide „vor der Bosheit des gesteinigten Satans“
bewahrt sind. Jesus ist ein „Gesandter“, seine Mutter eine „Wahrhaftige“,
aber beide sind doch nur „Menschen, die essen und trinken“.
Der Koran spricht davon, dass Maria
ihre Keuschheit bewahrte und dass sie von Allah ein „Wort“ empfing.
Dadurch, dass Jesus vaterlos von Maria geboren wurde, hat Allah ein
Zeichen seiner Allmacht gesetzt. Maria war eine Mutter aus
überweltlichem Stamm, auserwählt, rein und über alle Frauen erhaben,
gläubig, gehorsam, tugendhaft und auf besondere Weise ernährt.
Da Johannes in Ephesos starb, wird
auch Maria dort gestorben sein. Nach dem „Gesetz der Geheimhaltung“
verbargen die Christen die sterblichen Überreste der Heiligen und
den Ort der Bestattung, sodass damit nicht Reliquienverehrung als
eine Art von Götzendienst getrieben werden konnte. Aus diesem Grund
hat Johannes wohl Maria heimlich begraben lassen und seine Schüler
mussten schwören, den Platz des Grabes nicht zu verraten.
Jedes Jahr am Sonntag nach dem 15.
August, dem Fest „Mariä Himmelfahrt“, findet unter Führung des
İzmirer Erzbischofs eine Wallfahrt zum Haus der Maria bei Ephesos in
Panayakapulu, d.h., auf dem Berg nahe Selçuk/İzmir, statt. Tausende
von Christen aus aller Welt kommen zu diesem Gottesdienst.
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