|
Das Bild des "Türken"
in Europa, Prof. Dr. Bozkurt Güvenç
Wir Türken sehen uns
selbstverständlich als Türken, so nehmen wir uns wahr; und dass uns
auch andere als "Türken" sehen, wissen wir. So weit, so gut. Aber
stimmt denn der "Türke", der in unserem Verstand und Herzen lebt,
mit dem Bild, das sich andere von uns machen, überein, ja ähnelt es
ihm auch nur ? Sieht sich der Ausländer, sagen wir der Deutsche,
Franzose, Engländer, Italiener, selbst so, wie wir ihn uns
phantasieren ?
Man nennt die Selbstwahrnehmung des
Mitglieds einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur "Identität",
dagegen die Wahrnehmung bzw. das Urteil durch Außenstehende "Image".
Abgesehen von einigen Berührungspunkten gleichen sich Selbstbild und
Fremdbild nur wenig. In dieser Untersuchung will ich herausfinden, -
nicht wer wir Türken sind, sondern wie der "Türke" in den Köpfen der
Europäer aussieht.
Mit der Frage wurde ich erstmals
1945 in Amerika konfrontiert. Mein amerikanischer Vermieter,
Mr.Miner, ein ehemaliger Schneider und gebürtiger Wiener (ursprünglich
hatte er Gmeiner geheißen), brachte mir einen Einschreibebrief mit
der Bemerkung. "Hätte ich gewusst, dass Sie Türke sind, dann hätte
ich Sie nie in mein Haus einziehen lassen". Ein wenig verletzt und
erstaunt fragte ich nach dem Grund. Und dann kam es heraus: "Von
50-60 Jahren drohte mir meine Mutter: 'Schlaf, sonst geb ich dich
den Türken'. Seit ich weiß, dass Sie Türke sind, habe ich
Schlafprobleme".
Als ich 1973 von New York nach
London flog, saß ich neben einem AP- oder UP-Reporter. Da mein
Reisegenosse ein Amateur-Sprachforscher war, interessierte es ihn,
aus welchem Land (welcher Nation) ich stammte. Wenn wir noch ein
wenig redeten, würde er das aus meinem Tonfall, meinem Akzent
herausgefunden, haben, sagte er. Und schließlich war er soweit: "Aus
Rumänien, Ungarn, Syrien, Iran oder Afghanistan". Als ich ihn fragte,
weshalb die Türkei in der Liste der Länder nicht verkomme, meinte er:
"Sie ähneln keinem Türken", freilich ohne zu erklären, wem ein Türke
ähnelte. Schließlich wollte er mir nicht so recht glauben, dass ich
Türke war.
Sie selbst kennen wahrscheinlich
auch Westeuropäer, die Ihnen bei der ersten Begegnung das Türke-Sein
nicht abnehmen. "Also Sie, wirklich, wie Sie hier stehen, sind echt,
von Vater- und Mutterseite, von Geburt und Aufwachsen her Türke?
Haben Sie Ihr ganzes Leben in der Türkei verbracht?” so wird gefragt,
weil der Türke, der vor ihnen steht, nicht mit dem Türkenbild im
Kopf zusammenpassen will. Statt nun dieses Vorstellungsbild zu
korrigieren, versucht man die Spannung dadurch aufzulösen, dass man
das Gegenüber nicht als echten Türken ansieht. Der zeitgenössische
englische Wissenschaftler Geofrey Lewis erzählt folgende Begebenheit,
die sich bei der Neuauflage seines Buches über die Türkei ereignete:
"Ein Artikel mit der Überschrift 'Die Türkei und die arabischen
Länder' wurde vom Herausgeber ohne mein Wissen in ‘die Türkei und
die anderen arabischen Länder’ umgeändert. Offenkundig bedeutet dies
doch: Im modernen westlichen Denken wird die säkularisierte Türkei
mit den islamischen arabischen Ländern in einen Topf geworfen." Ein
französischer Filmkritiker, der den umstrittenen Film "Midnight
Express" in "Le Monde" vorstellte, beendete seinen Artikel so: "Die
Handlug löst im Zuschauer derartig tiefe Hassgefühle aus, dass der
Mensch beim Verlassen des Kinos wünscht, so eine Nation möge es
nicht geben, die hat kein Existenzrecht".
Ein junger Forscher (Bekir Onursal,
1986) hat bei einer Untersuchung des Türkenbildes in amerikanischen
Schulbüchern für die Mittel- und Oberstufe folgende Liste von
charakterisierenden Bezeichnungen für die Türken zusammengestellt: "Bergmenschen,
Sklaven der Araber, rauhe Krieger, Barbaren, kriegerische Rasse,
kämpferische Nation". Woher kommen alle diese Anekdoten und
Apostrophierungen, von denen es natürlich noch viele ähnliche gibt?
Zweifellos haben auch unsere vom Dorf stammenden Arbeiter in Europa
das ihre hierzu beigetragen, sozusagen ihr "Salz in die Suppe"
gerührt. Jedoch, so glaube ich, nährt sich das Türkenbild der
Europäer aus Schichten, die schon in eine viel frühere Zeit
zurückreichen, aus einem tief im kulturellen Gedächtnis liegenden
Bodensatz.
Während in der Mitte des letzten
Jahrhunderts die Osmanische Regierung, durch den Reformerlass vom
Gülhane Park (1839) und die Reform- und Toleranzedikte von 1856
versuchte, sich Europa anzugleichen und in der Augen der westlichen
Welt gut dazustehen, erläuterte Kardinal Newmann 1854 in einer
Vortragsserie zur türkischen Geschichte genau diese Frage. Mit den
Worten des Kardinals: "Von den Visigoten bis zu den Sarazenen haben
alle Rassen und Stämme, die mit dem Christentum in Berührung kamen,
früher oder später das Christentum angenommen. Die einzige Ausnahme
sind die Türken. Nicht nur wurden sie nicht Christen, sie setzten
sogar alles daran, das Christentum auszumerzen. Seit ihrem Eintritt
in die Geschichte im Jahre 1048 stellen sie das Symbol der Feinde
des Kreuzes dar, sind ihr Sprecher und Anführer. Deshalb wurden die
Türken zwischen dem 11. und 18. Jahrhundert als das größte Problem
und der wichtigste Feind der Katholischen Kirche angesehen. Man kann
sogar sagen, das Papsttum hat das letzte Jahrtausend seiner
Geschichte mit der Lösung der Türkenfrage verbracht" (aus dem 3.
Vortrag). Und Newmann gibt dazu folgende Fakten aus der Geschichte
der Päpste an:
Sylvester II. : Gründete gegen
die Türken die "Christliche Union" und setzte sie in Bewegung.
Gregor V. : Versammelte 50 000 Soldaten, um die Türken
zurückzuwerfen.
Urban II. : Begann mit den Kreuzzügen.
Honorius II. : Gründete zum Schutz der Pilger den Tempelritterorden.
Eugen III. : Ernannte St. Bernhard zum Bevollmächtigten für den "Heiligen
Krieg"
Innozenz V. : Verteidigte auf dem Laterankonzil den "Heiligen Krieg".
Nikolaus IV. : Suchte die Tataren für ein Bündnis gegen die Türken
zu gewinnen.
Gregor X. : Nahm mit König Edward I. an den Kreuzzügen teil.
Urban V. : Unterstützte als Gegengewicht gegen die Türken die
Inthronisation eines griechischen Kaisers und krönte ihn.
Innozenz VI. : Betraute Petrus Thomasius mit der Aufgabe, gegen die
Türken zu predigen.
Bonifaz IX. : Versammelte die französisch-deutsch-ungarischen Heere
zum Kampf bei Nikopolis.
Eugen IV. : Formierte ungarische und polnische Einheiten, die bei
Varna kämpften.
Nikolaus V. : Versuchte zusammen mit Johannes von Capistran die
christlichen Fürsten gegen die Türken zu einen.
Callixtus III. : Mobilisierte die Hunniaden gegen die Türken.
Pius II. : Schrieb dem Sultan seiner Zeit die Bulle : "Halt ein,
oder die Sache wird ein schlimmes Ende nehmen"
Sixtus IV. : Gründete eine Kriegsflotte gegen die Türken.
Innozenz VIII. : Legte sich Zeit seiner Regierung mit den Türken an.
Pius V. : Fügte zum Dank nach einem Sieg über die Türken der
Marienlitanei die Anrufung "Auxilium Christianorum" bei.
Gregor XIII. : Schuf aus dem gleichen Anlass das Rosenkranzfest.
Clemenz IX. : Starb aus Gram, von den Türken besiegt worden zu sein.
Innozenz XI. : Ließ nach der Niederlage der Türken vor Wien das
"Fest der Heiligen Maria" feiern.
Clemenz XII. : Erklärte nach dem Sieg der Christen bei Belgrad das
Rosenkranzfest, das Gregor XIII. geschaffen hatte, als für die
gesamte Christenheit verbindlich.
Nachdem Kardinal Newmann die
Geschichte des langes Kampfes der christlichen Kirche mit den Türken
zusammengefasst hat, fährt er in seinem 3. Vortrag fort wie folgt: "Ich
bestreite die Kampfkraft der Türken nicht. Aber diese Kraft ist es
ja, die sie zu erbitterten Feinden des Glaubens und der Kultur macht.
Deswegen sind wird verpflichtet, gegen die Türken zu kämpfen und sie
zu vernichten". Diese Erklärung beinhaltet das genaue Gegenstück zum
Heiligen Krieg (Dâr-ül harb), den die islamische Welt dem Heidentum
erklärt hatte. Kardinal Newmann spricht nicht davon, dass Papst Leo
eine Abhandlung von Martin Luther verboten habe: Jedoch scheut sich
Martin Luther nicht zu erklären, Papst Leo habe seinen Artikel (gegen
den Türkenkrieg des Papsttums) verdammt.
Martin Luther hatte sich wirklich
in zwei kleinen Schriften gegen die Türkenkreuzzüge der Katholischen
Kirche gewandt: "Über den Krieg gegen die Türken " (1528) und "Aufruf
zum Gebet gegen die Türken" (1541). Allerdings darf man diese
Schriften nicht so verstehen, als sei Luther gegen den Heiligen
Krieg, der den Türken erklärt worden war, eingestellt gewesen. Er
wandte sich nur dagegen, dass dieser seitens der Kirche und im Namen
der Christenheit veranstaltet wurde. Nach Luther ist dieser Kampf
eine Sache der Könige oder des Kaisers (Staates), nicht der Kirche.
Die Kirche und ihre Hirten müßten in der Nachfolge Jesu Liebe
verbreiten und den Frieden verwalten. Luther wandte sich auch
dagegen, dass unter dem Vorwand des Türkenkrieges die deutschen und
anderen Christen durch Spenden ausgebeutet würden. Kurz gesagt, hat
Martin Luther die Türkengefahr innerhalb seiner "protestantischen
Bewegung" gegen Kirche und Papsttum mit politischer Absicht benutzt.
Als er sich gegen die Kreuzzüge wandte, verteidigte er nicht etwa
die Türken, sondern ganz im Gegenteil, versuchte er sein Volk und
die Christenheit vor der türkischen Gefahr zu warnen. Zum Beispiel
nannte er in seiner ersten Abhandlung die Türken "Gottes Knüppel"
oder "seine Strafe", und 1541 formuliert er : "Die Christen, die
heute unter den Füßen der Türken stöhnen und zerdrückt werden,
werden diese zu gegebener Zeit richten und bestrafen", und er fügt
hinzu: "Das türkische Heer ist das Heer des Teufels". Schließlich
sagt er: "Wir kämpfen gegen die Türken, um Jesus gegen Muhammed zu
verteidigen", und (sic!) "um diesen Krieg zu gewinnen, rufe ich die
Christen zum Gebet auf".
In England kamen zwischen 1580 und
1642 in bis zu 20 Theaterstücken Türken vor. Der "Türke" geistert in
verschiedener Form und Symbolhaftigkeit durch die englische
Literatur bis hin zu dem Roman "Die Wellen" (The Waves) von Virginia
Woolf. Am häufigsten ist die Bezeichnung "Turbaned Warriors". In den
Theaterstücken der Elisabethanischen Zeit werden die Türken fast
immer mit folgenden Attributen erwähnt: "Größter Konkurrent, bzw.
Feind der Christenheit", "fremde Gesellschaft/Kultur", "Europas
Angsttraum" usw. In Wirklichkeit war nach 1550 die Kraft der Türken
gebrochen und ihre Ausbreitung zum Stillstand gekommen. Doch wurden
sie, die schließlich bis vor die Tore Wiens gelangt waren, noch
immer als Bedrohung für Deutschland und Italien angesehen. Obwohl
1581 zwischen Großbritannien und dem Osmanischen Reich ein
Handelsabkommen geschlossen worden war, schienen die Dichter von
dieser Entwicklung keine Kenntnis zu haben, denn sie stellten die
Türken immer noch als "allgemeinen Feind der Christenheit" hin. Dazu
passend feiert man im modernen Spanien noch immer den Seesieg bei
Lepanto über die Türken (1571), und zwar mit der Interpretation,
dies sei die "heilige Rache" der Christen für die Niederlage von
Zypern(1571).
In Shakespeare's Othello wird der
Untergang der starken türkischen Flotte in einem Sturm ganz ähnlich
kommentiert. In diesem Stück rechtfertigt sich Othello, als er
Desdemona tötet, vor sich selbst durch einen Vergleich mit der Kraft
der türkischen Soldaten und Führer.
Im Gegensatz dazu hat Paolo Giavio
in seinem Werk "Turcicarum Rerum Commentarius" die Gerechtigkeit und
Kraft der Türken noch über die der alten Römer und Griechen gestellt.
Und Bacon schätzte die “Türken als mindestens eine Rom
gleichgestellte Kultur" ein.
Shakespeare führt in "As You Like
It" die Türken mit ihrer Schlagkraft gegen die Christen als eine der
Nationen des Mittleren Ostens ein. In "Henry IV." lässt der
Verfasser den König Heinrich V. bei seiner Thronbesteigung zum Volk
sagen: "Das englische Königshaus ist nicht wie das türkische (d.h.
ich werde meine Geschwister nicht töten) Ich bin nicht Murat, ich
bin Harry, Harry".
In "Richard III." ist die Rede von
"Türken, bzw. Ungläubigen"; Nichtchristen, Sündern, Leugnern,
schwarzen Seelen, Wilden, rohen und ungebildeten Türken, von
unzivilisierten türkischen Sitten, In den “Canterbury Tales” von
Chaucer kämpft der Ritter gegen die Türken. In einer Londoner
Volksballade von 1598 nimmt ein junger Londoner Bursche am Krieg
gegen die Türken teil, besiegt sie, gewinnt die Tochter des Sultans
und wird glücklich.
Wieder in Shakespeare’s "Henry IV."
rühmt sich der junge König Heinrich V. vor seiner Geliebten: "Ich
werde nach Istanbul gehen und den Türken an seinem Bart packen (bzw.
aufhängen)”.
Mit einem Wort war der "Groß-Türke"
oder "Großherr" für die christlichen Könige ein erbarmungsloser,
unveränderlicher Feind. In Wirklichkeit waren die Türken "dem
gegebenen Wort treu, von hoher Gerechtigkeit und Zuverlässigkeit,
nicht hinterhältig, anständige Charaktere", doch waren genau die
gegenteiligen Redensarten im Umlauf, und diese hielten sich zäh,
Redensarten wie "der kleine Türke" oder "der Zehnpfennigtürke" (The
Turk of tenpence). In einigen Werken der englischen Literatur wird
erwähnt, dass die Kinder auf Puppen, die "Türken" hießen, zum Spaß
mit Pfeilen schossen. In "King Lear" spricht Shakespeare von den
Türken als "hinter den Frauen her" (mit losem Hosenbändel). Marlowe
lässt in seinem Bühnenstück "Timurlenk I." die besiegten Türken
durch den Sieger Timurlenk verächtlich "braggers" nennen. Die am
häufigsten erwähnten Sünden der Türken sind "Grausamkeit,
Unterdrückung, Zerstörungswut". In der Literatur und den
Theaterstücken jener Zeit werden die Türken als "Gottes Strafe für
die Sünder" hingestellt.
Im aufgeklärten oder traditionellen westlichen Denken, das sich mit
dem Christentum auseinandersetzt, finden sich natürlich auch
positive Stimmen, den Islam und die Türken betreffend. So war Kaiser
Friedrich II. von der islamischen Kultur begeistert. Und Dante zählt
in der “Göttlichen Komödie” Ibn Sina und Ibn Rüsd zu den zwölf
größten Genies der klassischen Zeit.
Als jedoch die Türken die
geschichtliche Bühne betraten und das Herz Europas vor Angst zu
zittern begann, änderten sich die Gedanken und Überzeugungen in
Bezug auf Muslime und Türken von der Wurzel her. So schreibt z.B.
Bacon, dass İbn Rüsd von den westlichen Philosophen akzeptiert würde,
doch Bischof Tempier verwarf 1277 die deistische Philosophie des Ibn
Rüsd vollständig. Und Raymondus Lullus forderte schon 1311, als die
Türken noch gar nicht in die europäische Geschichte eingetreten
waren, auf einer geistlichen Versammlung in Wien, militärische
Vorkehrungen gegen den Islam zu treffen.
Neben allen diesen westlichen
Philosophen und Geistlichen, die sich mit der Türkenfrage befassten,
kann man auch Wissenschaftler und Historiker finden, die vom "ruhm-
und ehrenreichen Türkischen Imperium" sprechen, das Europa in
Schrecken versetzt, etwa Richard Knolles mit seinem Werk "A General
Historie of the Turkes" von 1603. Der erste westliche Denker, der
mutig und offen die religiösen und sittlichen Vorurteile gegen die
Türken bekämpfte, war Voltaire. In dem Sammelband "Türken, Muslime
und die anderen" (in türkischer Sprache, 1975, einer
Veröffentlichung der İş Bankası) untersucht Osman Yenseni sechs
Werke Voltaires, angefangen vom "Philosophischen Wörterbuch" bis zu
"Peter, der Große". Voltaire gesteht zwar, dass er die Türken, die "ihre
Frauen unterdrücken und sich für die schönen Künste nicht
interessieren", nicht mag, aber: "Vor Verleumdungen ekelt mich
derart, dass ich mich am Dreck-Schleudern nicht mal gegen die Türken
beteilige". In der genannten Sammlung wendet sich Voltaire gegen
lügenhafte, falsche Vorurteile, die Türken betreffend, und erwähnt
aus der türkischen Geschichte bisher unbekannte positive Beispiele,
die man möglicherweise nicht wahrnehmen wollte. Wie dem auch sei:
Voltaire stand alleine da, hatte auf sein Zeitalter, die Masse und
ihre Vorstellungen keinen Einfluss.
Während im Zeitalter der Aufklärung
die Philosophen versuchten, die Vorurteile gegen die Türken zu
korrigieren, befand ein Zeitgenosse Voltaires, der berühmte
englische Schriftsteller Dr. Samuel Johnson, es nicht mal für wert,
sich mit dem Türkenthema auch nur auseinanderzusetzen, geschweige
denn, darüber zu schreiben. Wie schnell und tiefgreifend sich die
Gefühle und Gedanken der westlichen Welt in Bezug auf die Türken
zwischen 1600 und 1750 gewandelt hatten, mag ein Urteil Johnsons
(1751) über den Historiker Knolles veranschaulichen: "Das Werk über
die türkische Geschichte (1603) des Historikers Knolles ist eine
unvergleichliche Studie zu einem nunmehr wertlosen und
uninteressanten Gegenstand. Der Verfasser wäre nicht dem Vergessen
anheimgefallen, hätte er ein anderes Thema als diese abgelegenen,
barbarischen Türken gewählt. Deshalb ist es bloß bedauerlich für
unsere Nation, die diesen großen Historiker hervorgebracht hat, dass
er sein Genie an eine fremdartige und nutzlose geschichtliche
Untersuchung verschwendet hat. Hätte Knolles, statt sich mit den
Türken zu befassen, die Geschichte seines eigenen Landes geschrieben,
wäre er zweifellos in die Reihe der Unsterblichen aufgenommen worden"
(nach G. Lewis 1974). Als der Westen universelle Wertvorstellungen
entwickelte, die -selbstverständlich- seiner eigenen Kultur
entsprachen, da schuf er im Grunde auch den "Osten", indem er das
eigene Dasein und Sosein gegen den Osten abgrenzte (die Türken und
das Türkische als Antithese benutzend). Der "Westen" gewann höchste
Bedeutung, während "östlich" zum abwertenden Beiwort wurde. Dabei
wurden die Türken zu Vertretern des (in den Augen der Europäer)
ständig kleiner werdenden Ostens. Andererseits konnte man seine
Verehrung und Bewunderung für die Türken, die vor dem 17. Jh. Europa
in Furcht versetzt hatten, nicht verbergen. In jener Zeit, als die "prächtigen
und fabelhaften" Türken Europa als klein ansahen, hatten die
Europäer die Türkei erforscht und ein Bild von den "Türken"
entwickelt. Als dann im 19. Jahrhundert die Türkei vom Westen
abhängig wurde, gewann das Türkenimage, als Gegenpol zur
Kultiviertheit, noch einmal eine neue Dimension. Dass im Zeitalter
der Aufklärung die Geschichtsbetrachtung sich zunehmend von
religiösen Vorurteilen löste, reichte nicht aus, die Vorstellungen
über die Türken zu korrigieren. Pernoud fragt (1977) folgendermaßen:
"Gibt es einen Wissenschaftler, der so intelligent (beherzt,
anständig) wäre, von den Heldentaten, Fähigkeiten und der geistigen
Durchdringung der Ereignisse durch die Türken zu erzählen?" Die
Denker des 18. Jahrhunderts fanden, als sich im Westen der
Absolutismus entwickelte, dessen "Idealtypus" (im Weberschen Sinne)
im Osten verwirklicht, insbesondere in der Osmanenherrschaft die sie
dann als "Despotismus" qualifizierten. So wurde das Osmanische und
Türkische zum Prügelknaben des westlichen Denkens. Und das
Vorstellungsbild vom "Türken" begann sich seit dem 18. Jahrhundert
noch einmal zu wandeln.
Das Bild vom Orient und vom Türken
entwickelte sich in drei verschiedenen Schritten. Zuerst einmal
brachten die Reisenden eine Mischung aus Begriffen und Beobachtungen
mit, die die Philosophen und Experimentatoren dann bearbeiteten, und
die Orientalisten und Turkologen schrieben darüber und verbreiteten
das Ganze in der Welt. Eigentlich war das Interesse der westlichen
Gesellschaft an der Türkei nach der Renaissance gewachsen. Eines der
meistgedruckten Bücher war im 17. Jahrhundert die
Türkei-Reisebeschreibung von Villamount (1595). Sie erlebte über 20
Auflagen. Doch die zweite Belagerung Wiens (und die Niederlage)
bedeutete für das Interesse an den Türken den Wendepunkt: die
Besiegten waren kein Angsttraum mehr, sondern nur noch Vertreter
einer anderen, exotischen Kultur.
Auf dem Weg von Bodins Gedanken der
"Grausamen Monarchie" (1529) bis zu Montesquieus "Östlichem
Despotismus" hat auch der Begriff der "Patromonialen Königreiche"
von Hobbes (1651) einen wichtigen Platz. Der Begriff der "Patromonialen
Monarchie", den übrigens Max Weber zu Beginn unseres Jahrhunderts
wiederbelebte, war auf das Osmanische Reich bezogen gewesen. Hobbes
hatte diese Monarchien mit dem Symbol des "Leviathan", eines
Meeresungeheuers aus dem Alten Testament, gekennzeichnet. Es ist
eine Regierungsform, die dem einzelnen Mitglied der Gesellschaft
keinerlei Rechte zugesteht, während der Monarch alles Recht, alle
Befugnisse in seiner Hand gesammelt hat, sodass dem Einzelnen nur
noch die Pflicht zum Gehorsam bleibt. Aus diesem Grunde wurde der
"Leviathan" von den westlichen Denkern als "eine philosophische (moralische)
Rechtfertigung der despotischen Herrschaft" kritisiert. Nach dieser
Ansicht habe Hobbes "sämtliche Verbrecher, die sich die Herrschaft
mit Gewalt angeeignet haben, legitimiert". Daher stammt zu einem
Teil die Ablehnung von Hobbes und dem türkischen Regierungssystem im
westlichen Denken. Die Christen lehnten auch den Gedanken "Homo
homini lupus" (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) von Hobbes ab.
An drei kurz hintereinander erschienenen berühmten
Reisebeschreibungen lässt sich nachweisen, wie sich das Verhalten
des Westens gegenüber dem Osten durch den Einfluss des "Leviathan"
gewandelt hat.
Chardin (1687) lobt die türkische
Politik, die er für der europäischen überlegen hält, und die, obwohl
außerhalb von Regeln und Institutionen, doch vom gesunden
Menschenverstand geleitet sei. Tavernier (1677; 1680), der den
harten oder reinen Despotismus kritisiert, ist von der
Regierungsform und Gerechtigkeit der Osmanen angetan. Barnier
(1699), der von allen östlichen Gesellschaften nur Indien erforscht
hat, rechnet den Iran und das Osmanische Reich schlichtweg zum
Despotismus des Ostens. Grotius (1746) betrachtete Krieges- und
Friedensrecht im Rahmen der Kreuzzüge und rief alle Christen zur "Vereinigung
gegen die Türken" auf.
Ausgehend von der oben genannten
Reisebeschreibung, sah auch Montesquieu den Osmanischen Staat als "Prototyp"
des "despotischen Staates" an. Er wirkte auf sein Zeitalter durch
kurze Schriften und Bücher. Außerdem kritisierte er die Türkei als
"das Land, wo die Freiheit am stärksten beschnitten ist".
Die Auseinandersetzungen zwischen
dem bürgerlichen Voltaire und dem Adeligen Montesquieu basieren auf
dem oben Gesagten.
Voltaire, der die Türken gegen
seine Zeitgenossen verteidigte, wandte sich auch gegen Bernier und
bezog sich lieber auf Marsigli (1739). Aber trotz allen persönlichen
Einsatzes gelang es Voltaire nicht, die Vordenker des Aufgeklärten,
bzw. Enzyklopädischen Zeitalters davon abzubringen, den Osmanischen
Staat für "despotisch" zu halten und diese Vorstellung noch zu
vertiefen (wie Turgot, Rousseau, Diderot).
"Das längste Jahrhundert des
Osmanischen Reiches" (das 19.) endete damit dass der "Kranke Mann am
Bosporus" starb und sich und sich die westlichen Mächte sein Erbe
teilten. Trotzdem ergab sich in der "Türkischen Frage" aus der Sicht
der Europäer keine bleibende Lösung. Die Kemalistische (nationale
und säkularisierte) Türkische Republik, die sich aus den Trümmern
des Imperiums erhob, verwirrte den Westen aufs neue. Die Freude
blieb dem Westen regelrecht im Halse stecken.
Der Bürger dieser neuen Republik,
das war ja der im modernen Westen nicht bekannte, dem Bild des
Türken nicht gleichende Türke. Jedoch glich der neue "Türke" auch
nicht den Menschen aus den türkischen Dörfern, die unter der
Bezeichnung "Gastarbeiter" in die Länder des Westens geschickt
worden waren. Dass die "Gastarbeiter" genannten Türken mit den
westlichen Gesellschaften nicht in kulturellen Austausch traten, bzw.
sich nicht akkulturierten, verursachten sie in diesen Gesellschaften
unerwartete Schwierigkeiten und harte Probleme. Sie irritierten den
Westen, verärgerten ihn und lösten sogar Ängste aus. Jener starke
Westen, der geglaubt hatte, billige Arbeitskraft importiert zu haben,
sah sich mit einer harten, stabilen, widerstandsfähigen Sorte
Menschen konfrontiert, die man nicht aussaugen konnte. Jedoch haben
die in den tiefen Graben zwischen christlich westlicher und
islamisch türkischer Kultur aufwachsenden Kinder der zweiten und
dritten Generation nicht nur bei uns Türken, sondern auch bei den
Verantwortlichen des Westens Besorgnis ausgelöst. Zu keiner
bekannten Kultur oder Subkultur gehörig, haben diese Kinder wohl,
eher als einen Prozess der Kulturaneignung, eine Art von
Kulturverlust durchgemacht.
Nun haben die Türken, die eist vor
Wien umkehrten, heute Wien längst hinter sich gelassen. Sie
verlangen das Recht auf Freizügigkeit im Baltikum, am Rhein und an
der Elbe. Der Westen jedoch versucht, aus Interesse und noch viel
mehr aus Besorgnis vorherzusehen, ob die Türken an dem historischen
Knotenpunkt, den sie nun erreicht haben, sich nach "Westen oder nach
Osten" wenden werden. Deshalb werden alle Fragen, die Republik
Türkei betreffend, sei es die Freizügigkeit oder der EG-Beitritt,
unter dem Aspekt behandelt, wohin dieses Land wohl in nächster
Zukunft tendiert. Wird die Türkei, die in den letzten Jahren
offiziell die Vollmitgliedschaft in der EG beantragt hat, sich nun
dem Westen oder dem Osten zuneigen? Hier liegt die Hauptfrage. Die
Türken haben mit ihrer Militärkraft, ihrer Bindung an den Islam und
ihrem Staat den Westen jahrhundertelang in Schrecken versetzt und
tief beeindruckt. Der säkularisierte Westen fürchtet sich vor dem
Islam und vor politischem Fanatismus, der zum Mordversuch am Papst
geführt hat.
Der christliche Westen traut der
gesetzlich und rechtlich verankerten Säkularisierung in der Türkei
nicht ganz; er befürchtet offen eine Renaissance des islamischen
Radikalismus.
Der sozialdemokratische (sozialistische)
Westen ist der Zukunft der Demokratie in der Türkei trotz allem
nicht sicher.
Der vernünftige (realistische)
Westen, statt die Türkei als ein europäisches Land zweiter Klasse an
die Brust zu drücken, versucht, da sie ihm als der natürliche Führer
(bzw. ein Element des Ausgleichs) im Nahen Osten erscheint, sie zu
schützen oder als Brücke zu benutzen.
Zusammenfassend gesagt: Die
westliche Welt weiß nicht so recht, wie sie die mittelöstliche
Türkei einordnen bzw. beurteilen soll. Deswegen akzeptiert sie die
Türkei einerseits nicht als Partner, andererseits kann sie sie auch
nicht offen zurückweisen. Sie wird im Wartestand "zwischen Himmel
und Hölle" gehalten.
Nähern wir uns dem Westen, wird
Griechenland unruhig; einigen wir uns mit den arabischen Ländern, so
stört das Israel.
Da diese beiden Staaten für das
politische Gleichgewicht so bedeutend sind, ergibt sich für unsere
Beziehung zum Westen, die sowieso auf sozio-kulturellem Gebiet in
einer Patt-Situation steckt, die passende Umgebung. Bei der
Neubewertung der Geschichte, bei der Überwindung der
soziokulturellen Hürden ist wohl auch die außenpolitische Dimension
zu beachten, scheint mir. Die Türken haben Europa nicht geteilt,
ohne Zweifel. Aber oft haben die Türken es geeint - gegen sich! Da
das Bild vom "Türken" für die Herausbildung der europäischen
Identität so hilfreich war, wird im Neuen Europa auch für die Türken
ein Platz sein, sage ich..., wenn nicht heute
|
|